120 bpm in der Brust
Voller Terminkalender, wenig Kontrolle? Eine Reportage für Überarbeitete.
Jeden Morgen eine To-Do-Liste im Kopf. Ich bräuchte längst eine Liste, um alle meine Listen zu organisieren: Recherchen, Ausstellung vorbereiten, Workshop konzipieren, Wäsche waschen, und dann das schlechte Gewissen, sich lange nicht mehr bei alten Freunden gemeldet zu haben.
Jeder Mensch kennt solche Phasen, in denen es sich anfühlt, als würde man etwas falsch machen: Ich frühstücke dann erst manchmal abends, mit Kaffee und Zitronensoda halte ich mich über Wasser. Stay hydrated! Um Deadlines zu schaffen, lasse ich das Boxtraining ausfallen. Meine Fingerspitzen sind in dieser Zeit Seismografen meines Innenlebens: Jeden noch so kleinen Hautzipfel reiße ich ab. Ich könnte sagen: Das ist nur eine stressige Episode. Doch die wiederholen sich.
Das liegt nicht an mir allein.
Wir leben in einer Welt, die selbst im Leerlauf lärmt: Wut in den USA, Drohnen über Polen, Bomben auf Gaza, Reformherbst, Rechtsruck. All das flackert uns täglich aufs Handy, schon morgens vor dem ersten Kaffee. Und manchmal schlägt mein Herz dann im Takt der Schlagzeilen, 120 bpm, als wäre es mit dem Weltgeschehen verkabelt.
Stress muss nicht schlecht sein
Dabei ist Stress nicht per se etwas Schlechtes. Richtig dosiert motiviert er und hilft, Herausforderungen zu meistern. Er lässt uns fokussieren, treibt uns an, neue Aufgaben anzunehmen, oder schüttet Glücksgefühle aus. Ich kenne auch diese Seite, wenn ich kurz vor der Deadline einen Text fertigstelle. Oder wenn ich eine schwierige Situation meistere: den Vortrag auf Englisch vor 100 Menschen oder das wichtige Interview mit einer Politikerin.
Stress wird dann gesundheitsschädlich, wenn er zum Dauergast in unserem Hormonhaushalt wird. 2023 veröffentlichte das McKinsey Health Institute eine Studie, nach der 22 Prozent der Menschen in Deutschland an Burn-out-Symptomen leiden. Chronischer Stress kann das Gehirnvolumen verringern (merkt man das?), die Knochenqualität schwächen, Kopf- oder Rückenschmerzen verursachen. Gedrückte Stimmungen und depressive Episoden inbegriffen. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Stress als eine der "größten Gefahren des 21. Jahrhunderts".
Wie also finde ich einen angemessenen Umgang mit diesem launischen Begleiter?
Um erst mal Stress zu minimieren, befrage ich die KI: "Von wem kann ich lernen, Stress zu bewältigen?" Ich erhalte schier endlose Listen an Ratgebern, Coaches, Abgrenzungsmeisterinnen und Achtsamkeitsgurus – offensichtlich bin ich nicht allein mit meiner Frage. Und wieder brauche ich fast einen Coach, nur um auch durch diese Liste zu kommen.
Zum Glück taucht ein Titel immer wieder auf: Stress dich richtig, ein Buch des Psychologen Jacob Drachenberg. Es gelte als eines der "besten Bücher zur Stressbewältigung", schreibt die KI. Na gut. Ich bestelle es in der Stadtbibliothek. Drachenberg war 15 Jahre lang Hochleistungssportler, spielte Wasserball in der U21-Nationalmannschaft und als Kapitän in der 1. Bundesliga. Doch dann erlitt er einen Burn-out, nahm 23 Kilogramm zu, bekam eine Depression, nichts ging mehr. Er begann, sich zu fragen: Was hat das mit Stress zu tun? Er kennt sich aus.
Zwar klingt es nach einem Wandtattoo, aber der erste Satz, den ich mir in dem Buch markiere, ist: “Dein Stress kommt nicht von außen. Du selbst bist dein Stress.” Drachenberg meint, dass Stress eine Reaktion des Gehirns auf die Umwelt ist. Das muss nicht immer etwas mit Arbeit zu tun haben. Sorgen, etwa um eine geliebte Person, Ängste vor Krieg, Klimawandel, Erkrankung oder Jobverlust, oder sogar Unterforderung und Langeweile können Stress auslösen. Drachenberg vergleicht Stress mit einer Gitarrensaite, die Spannung benötigt, um einen Klang zu erzeugen: Ist sie zu schlaff, schleift sie am Korpus, ist sie überspannt, reißt sie.
In der letzten Ausgabe lernte ich vom Weltmeister im Kunstpfeifen, was das Leben leicht macht. Hier entlang zum Text:
Unser Gehirn und Körper schütten bei Stress Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus und schicken sie in unsere Blutgefäße. Das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen an. Diese Reaktion stammt aus Urzeiten, sie half, in gefährlichen Situationen zu fliehen oder zu kämpfen.
Drachenberg hat „neun Entscheidungen für mehr Gelassenheit“ formuliert, die alle mehr oder weniger auf einem Prinzip beruhen: Besinne dich auf dich. Jeder entscheide selbst, wie er mit äußeren Umständen umgehe – einer vollen To-do-Liste, einem Vortrag oder dem schwierigen Gespräch mit der Chefin. Der Schlüssel sei, die Stressauslöser zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, sie zu entschärfen. Bei mir sind es fehlende Pausen, ich quetsche Telefonate, Videocalls und Recherchen in den Kalender, für mich selbst plane ich nie Zeit ein. Stress lasse sich aber nicht vermeiden, betont Drachenberg, vielmehr gehe es darum, ihn bewusst zu managen: also zu unterscheiden, wann er belastet und wann er unterstützt.
Besuch in einem Stresstest-Raum
Die voll Stressbreitseite bekam ich im Dezember 2017 zu spüren: Ich fuhr auf der A9 durch ein Schneechaos nach Berlin. Ich hatte zuvor meine Masterarbeit abgegeben – Philosophie und Kulturanthropologie, klamme Jobaussichten – und kurz davor war nach sieben Jahren meine Beziehung zerbrochen. Ich lebte mit gepackten Kartons im Arbeitszimmer von Freunden. Morgens wachte ich mit Herzklopfen auf, es war, als würde ich einen Marathon laufen, ohne die Ziellinie zu sehen. Um mich abzulenken, trieb ich mich bis in die Morgenstunden in Clubs und Bars herum, wollte nichts und doch alles fühlen.
A9 also, im Scheinwerferlicht wirbelten Schneeflocken, meine Gedanken an die letzten Wochen waren schwer. Plötzlich verengte sich mein Blick zu einem Tunnel, meine Hände und Wangen kribbelten, und dann traf mich eine unsichtbare Wucht wie ein Faustschlag auf der Brust. "WAS PASSIERT HIER? Ist das ein Herzinfarkt?", schoss es mir durch den Kopf. Mit Mühe lenkte ich den Wagen auf den Standstreifen und wählte zitternd die 112. Im Krankenwagen erklärte mir der Arzt: "Das war eine Panikattacke. Ich weiß nicht, wie Sie gerade leben, aber so ist es nicht gut für Sie."
Ruhe schien mir die einzige logische Lösung. Ich begann zu meditieren, Joggen wurde wichtig für mich, ich trank weniger. Ich begab mich intuitiv auf den Weg, den Drachenberg in seinem Buch beschreibt. Doch trotzdem kehrte das Gefühl immer mal wieder zurück, dem Stress ausgeliefert zu sein.
Um mehr darüber zu erfahren, woher das kommt, fahre ich zur Universität Potsdam. Hier leitet Professorin Pia-Maria Wippert das Institut für Medizinsoziologie und Psychobiologie. Sie untersucht, wie sich Stress auf den Körper auswirkt. Ihr Büro liegt in einem alten Backsteingebäude mit Blick auf den königlichen Park Sanssouci. Im Erdgeschoss ließ sie einen sogenannten "Stresstest-Raum" einbauen, als sie 2010 die Leitung übernahm.
Im weißen Raum stehen nur ein paar Bürotische und Computer herum. Für ihre Studien führt Wippert hier den Trier Social Stress Test (TSST) durch, ein standardisiertes Verfahren zur Messung der Stressreaktion. Dabei treten Probanden einem strengen Gremium in weißen Kitteln gegenüber, müssen einen fiktiven Bewerbungsvortrag halten und unter Druck Rechenaufgaben rückwärts lösen – ohne Hilfsmittel, harschen Rügen gibt’s bei Fehlern. Wippert und ihr Team beobachten die Reaktionen hinter einem verspiegelten Fenster und messen zwischendurch Blutdruck, Herzfrequenz und nehmen Speichelproben für die Cortisol-Konzentration. So wird sichtbar, wie eng Stress und Körper verknüpft sind.
"In der Forschung unterscheiden wir nicht mehr zwischen gutem und schlechtem Stress. Entscheidend ist die individuelle Reaktion auf ein Ereignis", erklärt Wippert. Auf unkontrollierbare Ereignisse reagiert jeder unterschiedlich: Für die eine Person ist eine Scheidung eine Befreiung, für die andere eine schlimme Krise. Wer identifizieren kann, woher der Stress kommt, kann die Stresstoleranz wie einen Muskel trainieren. Wippert nennt diesen Muskel "die Cortisol-Achse".
Seitdem ich boxe, bringen mich nervige Projekte nicht so schnell aus der Ruhe. Mit jedem Sparringskampf überwinde ich meine Angst vor schwierigen Gegnern. Wippert sieht da einen Zusammenhang: Wer regelmäßig Sport macht, schüttet in Stresssituationen nicht so viel Cortisol aus. "So hat man im Alltag einen Puffer", sagt sie. Der Cortisol-Muskel wird definiert, aber schon ein Spaziergang im Wald reiche dafür. Es gehe darum, Belastung und Entspannung zu balancieren. Auch Wipperts Zeitplan ist vollgepackt, zusätzlich arbeitet sie im Krankenhaus. Wird es ihr mal zu viel, geht sie im Park hinterm Institut joggen – die Schuhe stehen griffbereit unter ihrem Bürotisch.
Doch viele Menschen haben nicht die Ressourcen, gut mit Stress umzugehen. "Die gesundheitliche Chancengleichheit ist ungleich verteilt", erklärt Wippert. Eine Frau mit einer gehobenen sozialen Stellung – etwa mit hohem Einkommen, leitender Tätigkeit, akademischen Abschlüssen und breitem Netzwerk – habe rund 15 Jahre mehr Lebenserwartung als ein Mann mit geringerer. Wer mehr verdient, privat krankenversichert ist, gut wohnt, umfangreich ausgebildet ist, sich frisches Gemüse, eine Psychotherapie oder einfach mal eine Auszeit leisten kann, hat tendenziell weniger Stress.
Als ich Wippert verlasse und durch den Park schlendere, denke ich an ihren letzten Satz: "Stress lässt sich nicht vermeiden, aber man kann verhindern, dass er chronisch wird." Man müsse auf die Warnsignale achten: Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Schmerzen, gedrückte Stimmung, depressive Episoden.
Ich denke, wenn Stress eine Reaktion auf die Umwelt ist, dann muss Stressbewältigung es auch sein. Das zwingt den Menschen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die langen Listen mit Ratgebern und Coaches sind ein Indiz dafür, Instagram ebenso. Sie zeigen das Bedürfnis nach Resonanz. Empathie ist dafür nur ein anderes Wort.
Wenn alles nun zu viel wird, schalte ich die Notifications auf dem Smartphone aus, schaue vor dem Schlafen nicht mehr aufs Handy, lege Essenspausen ein, schreibe Tagebuch und blockiere im Terminkalender Zeitfenster, die ich allein für mich habe.
Auf dem Heimweg streiche ich in der Bahn über mein Nagelbett am Daumen. Erst unbewusst. Dann bewusst.
Bis bald,
Torben





Lieber Torben, danke für diesen konstruktiven und erkenntnisvollen Tauchgang in das dicht besiedelte Meer von uns existenzkämpfenden Freelancern und Solo-Entrepeneuren. Das tut gut zu lesen – und senkt die Beats per Minute im Panik-Gehirn (schont auch meine Nagelhaut)